ABENTEUER VOR DER HAUSTÜR: LOST IN BRAND/OBERPFALZ, HINTER EINEM ROSTIGEN FABRIKTOR.
TEXT // MONIKA SCHULZ
FOTOS // JÖRG SCHLEICHER
Drüben in Bayreuth ist die Hölle los. Die Kanzlerin befindet sich im Anmarsch auf den Grünen Hügel. Eröffnung der Wagner-Festspiele. Man gibt Lohengrin, die Erlöseroper, mit viel Prominenz, rotem Teppich und allem Brimborium.
Wir sind in Brand / Oberpfalz, 30 gepflegte Motorradminuten östlich von Bayreuth, wo man nichts, und zwar gar nichts, vom großen Bahnhof jenseits der Fichtelnaab mitkriegt. Außer im Radio, das aus einem lässig vorm „Waffenschmied“ geparkten Baufahrzeug krächzt. Antenne Bayern zerpflückt gerade Merkels Garderobe, Bayernchef Söder wird von Studenten ausgebuht, Oberstreber Spahn und Unterhaltungsbombe Gottschalk baden im Applaus der Schaulustigen vor dem Königsportal.
WIE SOLL MAN DAS JETZT ERKLÄREN: DIE MAGIE DES MORBIDEN, DIE FASZINATION DES VERFALLS ...?
BÖHMISCHE DÖRFER
Neuhäusl/Nove Domky. Eins von 2500 Dörfern, die nach der Ausweisung von drei Millionen Sudetendeutschen aus der Ex-Tschechei zerstört wurden oder verfielen. Von 89 Anwesen (1945) stehen noch zwei Handvoll – und die alte Kirche noch gerade so. Info-Material zu den verschwundenen Orten sammelt zanikleobce.cz.
MEHR ALS EINMAL MUSSTE SICH
NORD-OSTBAYERN NEU ERFINDEN
Wie versprochen haben wir von der Kösseine die Welt gesehen, aus 939 Metern Höhe: den Bayerischen Wald, Böhmer- und Thüringer Wald. Das Erzgebirge, die Rhön. Und natürlich den Hochadel des Fichtelgebirges: Schneeberg und Ochsenkopf. Zwei echte Tausender. 1051 und 1024 Meter hoch.Rückmarsch. Helm auf ... „Wo bleibt ihr? Verfahren? Verloren gegangen? Panne? Verpennt?“ Jörg – auweia. Den hatten wir vor lauter Weitblick kaum noch auf dem Schirm. Halb neun. Mist. Verabredet waren wir um acht. Alte Papierfabrik.Er wollte uns die Location unbedingt am frühen Morgen zeigen,sagte, Mittagslicht schlage ihm aufs Gemüt und jede Mystik tot. Auf nach Brand. Talabfahrt. Ein Rausch in Grün, mit beschleunigend schlechtem Gewissen. Julian mit der MT-07 auf Pole. Er hebt den Daumen, gleich sind wir dort. Holpern über einen Feldweg runter zur Fichtelnaab. Wie es sich gehört, steht die ehemalige Goetz Pappenfabrik direkt am Bach. Wasser war wichtig für die Bierdeckel-Produktion. Und Bierdeckelwaren wichtig für Bayern. 1897 pappte man hier unten die ersten zusammen, 2009 die letzten. In Jubeljahren verschickte Goetz 500 Millionen Filzl: Heineken, Coca-Cola, Guinness – sie standen auf Bierdeckeln aus Brand. Nur brauchte die Welt Mitte der 90er nicht mehr so viele davon. Auch Bayern nicht. Aus einer Unmenge heimischer Brauereien, es geht die Sage von 30 000, waren rund 700 geworden. Goetz hingauf halb acht. 52 Arbeitsplätze bedroht. 2004 grätschte ein Hamburger Investor ein. Goetz Pappe hieß nun Goetz International Papers & Printing. Geholfen hat’s wenig. Die Fabrik war verloren. Wieso viele Betriebe im ehemaligen Zonenrandgebiet: Papier, Textil, Glas, Porzellan – am Ende hat keiner vom Fall des Eisernen Vorhangs profitiert. Die kleinen Firmen verschwanden zügig, die größeren gingen in nächstgrößeren auf. Und von den ganz Großen haben es längst nicht alle gepackt. Winterling 1999 insolvent. Hutschenreuther 2000. Arzberg mit Schirnding, Kronesterund Seltmann Vohenstrauß 2013.
ACHTUNG!
GAS RAUS, KUPPE.
FLIEGENDE FICHTEN
WAS KOMMT NACH DEM ENDE?
„Die Stille. Die Ästhetik des Untergangs. Die Weite des unbelebten Raums. Und natürlich die Geschichte.“ Jörg liebt sie, diese verlorenen Orte. Nicht nur als Fotograf. Für ihn haben Lost Places etwas zutiefst Menschliches. Hier eine halb ausgetrunkene Flasche, dort eine kurze Notiz, ein Arbeitskittel ordentlich mit dem Bügel ans Regal gehängt, „das ist alles gelebtes Leben“. Die Flüchtigkeit des Augenblicks,das Vergängliche, Vergebliche – vielleicht wird es einem nirgendwo stärker bewusst. „Schaut euch diese Halle an! 110 Meter lang. Hier stand die Langsiebanlage. Riesig. Eine Monstermaschine. Stellt Euch diesen Lärm vor, das Gewummer und Gestampfe, diese ganze Hektik, die zittern den Fensterscheiben. Vorbei. Ende. Aus. Das ist doch Wahnsinn. Irgendwie. Oder?“ Ist es. D'accord, Jörg. Der Urban Explorer aus Hof kennt die alte Fabrikbis in den letzten Winkel. Hier fotografiert er Mode, hier stellt er demnächst seine Urbex-Bilder aus, hier arbeitet der Oberfranke aktiv am Strukturwandelin der nördlichen Oberpfalz mit. Lost Places zu Pflugscharen – oder so ähnlich. Denn das Goetz-Areal mit 9000 qm überbauter Fläche soll reanimiert werden. Als Event- und Coworking-Fabrik. Als Kunst-, Kultur- und Oldtimer-Insel. Als Thinktank an der Fichtelnaab. Warum nicht?
„Und jetzt“, Julian kramt sein Smartphone hervor, startet die Navi-App, „Münchsfeld, Frauenthal, Mühlhäusel?“ Nicht auf der Karte, off the map. Ihr Ziel liegt auf unerreichbarem Gebiet. „Das sind keine verlorenen, das sind verschwundene Orte.“ Tief im Wald, drüben im Bezirk Tachov. Es gib Hunderte, Tausende davon. Alle nach Kriegsende einplaniert oder geschleift oder verfallen. Das Deutsche musste raus aus Böhmen, Mähren, aus Tschechisch-Schlesien. Es ist viel zu spät, als wir Richtung Neuhäusl aufbrechen. Neuhäusl alias Nove Domky. Eins jener alten Dörfer, unten bei Rozvadov (Roßhaupt). Hatte mal 750 Einwohner, heute sind es noch 14. Oder zehn? Jedenfalls ist Neuhäusl nicht komplett verschwunden. Ein paar Häuserblieben erhalten. Und die alte Pfarrkirche? Vor Jahren bei der Durchreise eher zufällig entdeckt – vielleicht steht sie ja noch. Vielleicht schaffen wir es noch. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht. Schon geht es wieder los: Abenteuerlust, Pioniergefühle. Es gibt einen einfachen Weg, außen rum über Waidhaus. Aber Neuhäusl über Waidhaus, ist wie Tequila ohne Salz und Zitrone. Wir nehmen die Luftlinie, stauben über Schotter, zuckeln durch winzige Weiler, krachen in Schlaglöcher, verfahren uns im finsteren, böhmischen Wald. Letzte Sonnenstrahlenblitzen an dunklen Fichtenstämmen vorbei, als Neuhäusl in Sicht kommt. Die „Kirche der Heimsuchung unserer lieben Jungfrau Maria“ bietet dem Verfall tapfer die Stirn. Und dahinter, auf dem alten deutschen Friedhof, flackern rote Grablichtlein. Von wegen vergessen.