Schwereloses Vergnügen
TEXT // WERNER KOCH
FOTOS // FACT
WERDEN STEUERMANN UND PASSAGIERE IN DER BLECHKISTE BEI JEDER KLEINEN KURVE ZWANGSGESCHUNKELT, SCHWEBEN WIR MOTORRADLER SELBST BEI ZACKIGEM TEMPO FEDERLEICHT DURCHS KURVENGESÄUSE, WEIL SICH SCHWERKRAFT UND FLIEHKRAFT DIE WAAGE HALTEN. DER POLO RIDING COACH LÜFTET DAS GEHEIMNIS DER KRÄFTE UND MACHT EUCH FIT FÜR RADIEN ALLER ART.
Sobald wir uns ins schräge Vergnügen stürzen, mobilisieren wir allerhand Kräfte und Momente, die Ross und Reiter bis in tiefe Schräglagen auf Kurs halten. Doch nur wer locker, aber konzentriert den Ritt angeht, wird nach der Tour zufrieden und happy aus dem Sattel steigen. Auch wenn die geniale menschliche Motorik die komplexen Abläufe bei der Kurvenfahrt intuitiv weitgehend beherrscht: Die richtige Linie und ein sicherer, sauberer Strich bleiben oft auf der Strecke. Wie bei jedem technischen Sport, egal ob Klettern, Drachenfliegen, Skifahren oder Reiten, gilt auch für unser Hobby: Nur wer die theoretischen Grundlagen drauf hat und gezielt trainiert, ist für alle Fälle gerüstet. Dem Prüfer irgendwann die saubere Acht, ein paar Vollbremsungen und genügend Fahrstunden vorgelegt zu haben reicht auf Dauer nicht. Mit dem POLO Riding Coach starten wir eine Serie, die Basiswissen auffrischen und als Trainingsanleitung dienen soll.
Also dann: Legen wir los – und uns mit Teil 1 in die Kurve.
Phase 1:
Anbremsen & EINLENKEN
Vor jeder Kurvenfahrt steht die Anpassung des Tempos – logisch. Und schon an dieser Stelle räumen wir mit der modernen Stammtischparole auf, man könne die Hinterradbremse dabei vergessen. Richtig ist, dass man auf trockener Landstraße überwiegend mit der vorderen Bremse verzögert, die hintere wird jedoch leicht mitbetätigt. Solange das Heck beim Bremsen nämlich nicht abhebt, was es gewöhnlich nur auf der Rennstrecke tut, kann der hintere Pneu Bremskraft übertragen und folglich den Bremsweg verkürzen. Speziell mit Zuladung und bei Maschinen mit niedrigem Schwerpunkt und/oder langem Radstand spielt das eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zudem stabilisiert ein mitgebremstes Hinterrad das Motorrad.
Also bügeln wir flott übers Land, steigen in die Eisen und biegen in die nächste Kurve ein? Nein – ganz so einfach ist es nicht. Denn unser an sich lammfrommes Motorrad sträubt sich mit gezogener Vorderradbremse gegen die Schräglage. Aufstellmoment heißt dieses Phänomen und erklärt sich daraus, dass die Reifenaufstandsfläche vorn durch die höhere Radlast beim Bremsen größer wird und der Aufstandspunkt in Schräglage aus der sogenannten Lenkachse wandert. Dieser Versatz wirkt wie ein Hebelarm, der das Vorderrad zur Kurveninnenseite verdreht. Mit dem Resultat, dass sich das Motorrad gegen den von uns gesetzten Lenkimpuls nach außen aufstellt. Diese Widerspenstigkeit muss der Fahrer mit einer entsprechenden Kraft am Lenker ausgleichen. Der Bremsvorgang sollte deshalb vor dem Einlenken abgeschlossen sein, damit man sich voll und ganz auf die Linie und, ganz entscheidend, den richtigen Einlenkpunkt fokussieren kann.
Ein wichtiger Faktor hierbei ist die Bremswirkung des Motors, die durch Herunterschalten den Bremsvorgang unterstützt. Wer mit einem zu kleinen Gang und entsprechend hoher Drehzahl (hohem Bremsmoment) einlenkt, ist schon vor dem Scheitelpunkt zu langsam und muss durch Beschleunigen oder Aufrichten die Fahrlinie korrigieren. Ein Vorgang, der oft bei bergauf führenden Serpentinen zu beobachten ist, wenn der Fahrer regelrecht in die Kurve kippt, weil das Eingangstempo und damit die Stabilität zu gering ist. Saust man dagegen, speziell auf Gefällstrecken, mit einem zu hohen Gang in die Kurve, muss das fehlende Bremsmoment mit knackiger Schräglage kompensiert werden, sonst treibt die Fliehkraft das Motorrad auf einem zu großen Radius aus der Spur, sprich auf die Gegenfahrbahn oder in den Acker.
Ein Desaster beim Einlenken: der Verlust der Motorbremswirkung, etwa durch einen herausgesprungenen Gang oder eine gezogene Kupplung. Die Kiste lässt sich in so einer Situation nur noch mit enorm viel Kraft in Schräglage bringen und drängt durch die geringe Verzögerung sofort auf einen zu großen Radius. Generell gilt: Auch in brenzligen Situationen, wenn zum Beispiel die Kurve zu eng wird, nie die Kupplung ziehen! Weil damit die stabilisierende Wirkung der Motorbremse unterbrochen wird. Einzige Ausnahme: die Notbremsung, wenn der Stachel vorn und hinten mit aller Kraft in den Asphalt gerammt werden muss.
PHASE 2:
DIE ROLLPHASE ZUM SCHEITELPUNKT
Weil beim Rollen ohne Gas keine nennenswerten Umfangkräfte (Bremsen/Beschleunigen) am Reifen wirken, tendieren die meisten Motorräder beim Überziehen der Schräglage dazu, zuerst über das schmaler bereifte Vorderrad abzuschmieren. Eine üble Vorstellung, weil solche Slides auch hochtalentierte Schräglagen-Dompteure nur mit viel Glück und einem stramm ausgestreckten Knie abfangen können. Allerdings stecken moderne Reifen bei optimalen Bedingungen (ab 35° C warmem Gummi auf normal griffigem Belag) Schräglagen bis knapp 50 Grad weg. Die meisten Motorräder, Supersportler ausgenommen, ritzen jedoch schon vorher mit Fußrasten, Ständer oder Auspuff fette Rillen in den Asphalt.
Unsere menschlichen Gene sind auf Schräglagen von maximal 20 Grad programmiert. Soll es mehr werden, hilft nur eisernes Training und das logische Verständnis dafür, dass es mit dem Krad auch mal 35 oder 40 Grad sein können. Alles darüber ist für die Landstraße zu gefährlich, aber für den akuten Fall einer sich zuziehenden Kurve oder andere Notsituationen gezielt zu üben. Und lasst Euch nicht anmachen: Die „Angststreifen“ auf der Reifenschulter verschwinden auch bei den Profitestfahrern nur auf gesperrten und maximal griffigen Test- und Rennstrecken.
AUCH WENN DIE KURVE ZU ENG WIRD, GILT: NIE DIE KUPPLUNG ZIEHEN!
PHASE 3:
HINTERSCHNEIDEN UND LEICHT GAS GEBEN
Kurz nach dem Scheitelpunkt gibt man Gas, um vom Rollen ins leichte Beschleunigen überzugehen. Und hier liegt einer der großen Vorteile beim sogenannten Hinterschneiden einer Kurve. Man lenkt relativ spät mit geringer Kurvengeschwindigkeit ein und setzt den Scheitelpunkt nach etwa zwei Dritteln des Kurvenradius. Dieses Hinterschneiden erlaubt es, früh zu beschleunigen und die Linie nach Bedarf anzupassen. In Rechtskurven ergibt sich daraus ein angenehm großen Sicherheitsabstand zur Gegenfahrbahn.
Ganz anders beim Kurvenschneiden: Setzt man den Scheitelpunkt zu früh, lässt sich die maximale Schräglage am Kurvenausgang kaum mehr korrigieren, und die Reise geht im schlimmsten Fall auf der Gegenfahrbahn weiter. Wo wir, auch wenn sie frei zu sein scheint, nichts zu suchen haben. Weil augenblicklich ein flotter Reiter ums Eck kommen kann, der gerade genauso fröhlich am Gas dreht wie wir. »Stell dir vor, du kommst dir selbst entgegen«, lautet deshalb die goldene Regel auf kurvigen Strecken.
GOLDENE REGEL: STELL DIR VOR, DU KOMMST DIR SELBST ENTGEGEN
KRAFTAKT
S-KURVEN
Alles im grünen Bereich jetzt: Wir befinden uns auf der korrekten Fahrlinie, dem sicheren Kurvenvergnügen steht nichts mehr im Wege. Oder doch? Zum Beispiel dann, wenn wir in verzwickten S-Kurven oder haarigen Ausweichsituationen ratz, fatz die Kiste von einer Schräglage in die andere pressen müssen. Solche Manöver gelingen weder über die in „Fachkreisen“ unverdrossen kolportierte Gewichtsverlagerung noch durch die einseitige Belastung der Fußrasten oder den geheimnisvollen Schenkeldruck am Tank, sondern nur über kräftige und gezielte Lenkimpulse.
Denn die Massenträgheit der Maschine und die rotierenden Massen der Räder (Kreiselkräfte) reagieren ab etwa 70 km/h auf den verhältnismäßig geringen Gewichtstransfer des Fahrers aus der Längsachse nur mit minimaler und stark verzögerter Kursabweichung. Erst in derben Schräglagen unterstützt der Hangingoff-Fahrstil aus dem Rennsport die Kurvenfahrt, da der Massenschwerpunkt deutlich aus der Hochachse wandert und das Motorrad weniger Schräglage benötigt als bei aufrechter Sitzhaltung. Schnelle Schräglagenwechsel oder agiles Einlenken hingegen gelingen nur über die Bewegung am Lenker, die den Massenschwerpunkt blitzschnell aus der Geradeausfahrt abkippen lässt und in Schräglage verwandelt. Diesen Lenkimpuls setzen wir übrigens gegen die gewünschte Fahrrichtung. Aber zerbrecht Euch darüber nicht den Kopf, denn das erledigen wir ganz intuitiv. Glaubt Ihr nicht? Okay, macht den Test: einfach mal bei unter 50 km/h und freier Strecke bewusst nach links lenken – und schwups, klappt Euer Bike nach rechts.
WEITERE BEWEISE
UND ZAHLEN GEFÄLLIG?
Um beispielsweise eine Mittelklasse-Honda CB 600 F mit rund 100 km/h durch ein schnelles Landstraßengeschlängel zu fädeln, muss beim Schräglagenwechsel mit bis zu 300 Newton, also rund 30 kg Kraft, am inneren Lenker gedrückt werden. Dabei schlägt das Vorderrad um bis zu drei Grad Lenkwinkel gegen die Kurvenrichtung ein. Den Beweis für die Effizienz des Lenkimpulses liefern Fahrversuche mit einer umgebauten Kawasaki Z 1000, die mit einem zweiten, starr am Rahmen montierten Lenker ausgerüstet wurde. Der Testfahrer konnte damit trotz heftigem Drücken und Hängen die Fahrlinie nur minimal verändern – je höher das Tempo und die Massenkräfte des Fahrzeugs, desto geringer der Einfluss.
Die Märchen vom Schenkeldruck und das Lenken über die Fußrasten sind freilich wie alle Sagen nicht komplett aus der Luft gegriffen: Beim Umrunden von Haarnadelkurven zum Beispiel sitzt der Fahrer kompakt nach vorn orientiert auf dem Motorrad, presst am Eingang der Kurve den äußeren Oberschenkel gegen den Tank, und die Maschine zirkelt tatsächlich auf engstem Weg um die Kehre. Aber nicht wegen des Schenkeldrucks! Sondern aufgrund der Tatsache, dass jede Kraft eine Gegenkraft bewirkt. In unserem Serpentinen-Beispiel wirkt sich diese so aus, dass der Fahrer beim linksseitigen Abstützen am Tank mit der unbewussten Gegenkraft das linke Lenkerende nach hinten zieht. Und schon bekommt das Motorrad einen kräftigen Impuls Richtung Schräglage. Genau diesen unbewusst erzeugten Lenkimpuls verhindert der Versuchsaufbau mit starr am Rahmen befestigtem Lenker.
WENN’S ENG WIRD,
LENKT DER BLICK
Das Lehrbuch sagt zum Thema Blickführung: weit vorausschauen! Was im Prinzip stimmt, allerdings immer im Wechsel mit dem kurzen Blick vors Vorderrad einhergehen muss. Denn Schlaglöcher, Rollsplit oder hinterhältige Bitumenstreifen lassen sich mit dem weit nach vorn gerichteten Blick kaum erfassen. Er dient dazu, die Fahrlinie dem erkennbaren Streckenverlauf anzupassen. Bei Fahrtrainings auf der Rennstrecke ist der Scheitelpunkt einer Kurve oft mit rot-weißen Pylonen markiert. Mit viel Übung lässt sich diese symbolische Hilfe abstrahieren und auf die Landstraße übertragen, indem man den gewünschten Scheitelpunkt einer Biegung mit konzentriertem Blick fixiert. Geht einem durch Fehleinschätzung einer Kurve oder des Tempos die Straße aus, ist es dagegen zwingend notwendig, den Blick genau dorthin zu richten, wo man landen möchte. Und das ist die richtige Fahrspur und nicht der Graben!
Die passende Fahrlinie orientiert sich stets und ohne jede Ausnahme an der Verkehrslage. Nur bei übersichtlichen Strecken und großzügig bemessener Straßenbreite kann die Ideallinie, die ausschließlich auf der rechten Fahrspur stattfindet (!), umgesetzt werden. Für enge, unübersichtliche Sträßchen gilt die eiserne Regel: so eng wie möglich am rechten Straßenrand fahren, denn in Schräglage nimmt der benötigte Raum eines Motorrads immens zu.
Und jetzt: gute Fahrt! Und allzeit eine Handbreit Asphalt unter den Reifen.
MESSUNG MIT 2D-DATARECORDING
Ein Teleskop-Sensor erfasst jede Lenkbewegung. Die GPS-Antenne zeichnet 20 x pro Sekunde Geschwindigkeit und Schräglage auf. Vor Ort können Fahrer und Techniker die Aufzeichnungen der Kurvenfahrt analysieren. Das Diagramm zeigt die Linien für Schräglage, Geschwindigkeit und Lenkwinkel.
So nicht!
DURCH ZU FRÜHES EINLENKEN
TREIBT DAS MOTORRAD
AM KURVENAUSGANG AUF
DIE GEGENFAHRSPUR