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Biker fahren gemeinsam durch einen Lost Place
Biker fahren am Lost Place vorbei

ABENTEUER VOR DER HAUSTÜR: LOST IN BRAND/OBERPFALZ, HINTER EINEM ROSTIGEN FABRIKTOR.

TEXT // MONIKA SCHULZ
FOTOS // JÖRG SCHLEICHER

Drüben in Bayreuth ist die Hölle los. Die Kanzlerin befindet sich im Anmarsch auf den Grünen Hügel. Eröffnung der Wagner-Festspiele. Man gibt Lohengrin, die Erlöseroper, mit viel Prominenz, rotem Teppich und allem Brimborium.

Wir sind in Brand / Oberpfalz, 30 gepflegte Motorradminuten östlich von Bayreuth, wo man nichts, und zwar gar nichts, vom großen Bahnhof jenseits der Fichtelnaab mitkriegt. Außer im Radio, das aus einem lässig vorm „Waffenschmied“ geparkten Baufahrzeug krächzt. Antenne Bayern zerpflückt gerade Merkels Garderobe, Bayernchef Söder wird von Studenten ausgebuht, Oberstreber Spahn und Unterhaltungsbombe Gottschalk baden im Applaus der Schaulustigen vor dem Königsportal.

Schid mit einer Warnung, betreten verboten
Biker stehen an einem Tisch im Lost Place

WIE SOLL MAN DAS JETZT ERKLÄREN: DIE MAGIE DES MORBIDEN, DIE FASZINATION DES VERFALLS ...?

Lost Place Villa Mattoni

„Bei uns is’ ja der Max Reger geboren“, die Waffenschmied-Wirtin zückt die Zimmerschlüssel, „aber für den interessiert sich keiner so recht. Immer nur Wagner. Und ihr, wie seid’s ihr auf unsern Ort kommen? Wegen der alten Papierfabrik. Aha. Gibt’s dort was Besonders?“ Wie soll man das jetzt erklären: die Magie des Morbiden, die Faszination des Verfalls, die Schönheit zersplitterter Fensterscheiben...? Die Dame kommt uns gottlob zuvor. „Freilich, schön haben wir’s hier schon. Aber ruhig ist’s halt.“
DESHALB SIND WIR HIER
Um sechs Uhr in der Früh läuten die Kirchenglocken. Angelus Domini. Volles Programm. So viel zur Ruhe in Brand. Dünner Nebel über den Wiesen, Morgenkühle über dem Bach. Unterm pastellfarbenen Himmel zieht ein tschechischer Kleinlaster einsam seine Spur Richtung Neusorg. Wir starten die Maschinen. Noch zwei, drei Minuten, dann hat die Sonne den Anstieg über die Große Kösseine geschafft. „Von dort oben sieht man die ganze Welt“, hat gestern Abend ein tapferer Zecher versprochen. Kösseine – nie gehört? Wie auch: Weder das Fichtelgebirge noch die Oberpfalz zählen zu den Trommelwirbelregionen. Deshalb sind wir hier. Gewissermaßen als Entdecker. Auf Pionierfahrt im toten Winkel des touristischen Mainstream. In dieser ungeschminkten Gegend, die manchmal sogar von ihren Landesvätern vergessen wird.

Lost Places Wondreb-Talsperre

VILLA MATTONI

1873. Im engen Tal der Eger vor Karlsbad kauft Heinrich Mattoni nicht nur eine Mineralquelle, sondern das Dorf Gießhübl, tschechisch Kyselka, gleich dazu. Er lässt Villen errichten, Kurhäuser, eine Bahnlinie. Gießhübl kommt zu Weltruhm und das gute Mattoni bis heute aus Kyselka. Nur die Neorenaissance geht immer weiter den Bach runter.

Keine Industrieschlote, keine Aldi-Lidl-Baumarkt-Vorstädte, keine breiten, für Just-in-time-Geschäfte geschlagenen Schneisen. Nur Gegend. Und eine Landschaft, die dich von allen Seiten umarmt – mit ihren klaren Hügelzügen, ihrer Weite, ihren Wäldern. Kleine Straßen. Kaum Verkehr. Kurven. Kurven. Kurven. Rauf, rechts, runter, links, Haarnadel, Achtung! Gas raus, Kuppe. Fliegende Fichten, in Wellen anrollende Wiesen und Felder. Alle zehn Kilometer ein Auto, alle paar Minuten ein See. Dazwischen Orte, deren Namen tausenderlei Phantasien ankurbeln: Pechbrunn, Tröstau, Friedenfels.

BACK TO 1961

Wondreb-Talsperre. Flutung. Jesenice versinkt. Ein ganzes Dorf. Einfach weg. Bis auf die Brücke der alten Straße nach Cheb. Zehn Kilometer weiter südlich: Neualbenreuth. Vertriebene Egerländer bauten einen Grenzlandturm. 20 Meter hoch. Aus Seh(n)sucht nach der alten Heimat hinter dem Eisernen Vorhang.

Regenwasser plätschert auf das Wasser

Wurmloh, Nagel, Scheibe, Neuwelt. Wobei gefühlt jedes achte Dorf Schwarzenbach heißt und jedes vierte irgendwas mit -reuth. Reuth wie Rodung, wissen die Gelehrten. Tirschenreuth. Neualbenreuth. Ödwalpersreuth. Hin und wieder hinten auch ein -loh oder -loe, klares Indiz für Brandrodung. Jahrhundertelang lebten die Oberpfälzer und -franken vom Erzbergbau. Eisen vor allem. Aber auch Zinn, Kupfer, Silber und Gold. Es wurde gegraben, geköhlert, verhüttet und abgeholzt, abgeholzt, abgeholzt. Die schnelle Fichte sollte es wieder richten. Nur: So schnell wuchs sie doch nicht. In der Frühen Neuzeit war’s dann – auch deshalb – mit der Pracht und dem Wohlstand vorbei. Die letzte Grube, Leonie, hat trotzdem bis 1987 durchgehalten. Sie stand unten in Auerbach und macht jetzt auf Naturschutzgebiet.

Biker fahren auf einer Straße in Richtung Lost Place
Biker stehen vor dem Lost Place Böhmische Dörfer

BÖHMISCHE DÖRFER
Neuhäusl/Nove Domky. Eins von 2500 Dörfern, die nach der Ausweisung von drei Millionen Sudetendeutschen aus der Ex-Tschechei zerstört wurden oder verfielen. Von 89 Anwesen (1945) stehen noch zwei Handvoll – und die alte Kirche noch gerade so. Info-Material zu den verschwundenen Orten sammelt zanikleobce.cz.

MEHR ALS EINMAL MUSSTE SICH
NORD-OSTBAYERN NEU ERFINDEN

Wie versprochen haben wir von der Kösseine die Welt gesehen, aus 939 Metern Höhe: den Bayerischen Wald, Böhmer- und Thüringer Wald. Das Erzgebirge, die Rhön. Und natürlich den Hochadel des Fichtelgebirges: Schneeberg und Ochsenkopf. Zwei echte Tausender. 1051 und 1024 Meter hoch.Rückmarsch. Helm auf ... „Wo bleibt ihr? Verfahren? Verloren gegangen? Panne? Verpennt?“ Jörg – auweia. Den hatten wir vor lauter Weitblick kaum noch auf dem Schirm. Halb neun. Mist. Verabredet waren wir um acht. Alte Papierfabrik.Er wollte uns die Location unbedingt am frühen Morgen zeigen,sagte, Mittagslicht schlage ihm aufs Gemüt und jede Mystik tot. Auf nach Brand. Talabfahrt. Ein Rausch in Grün, mit beschleunigend schlechtem Gewissen. Julian mit der MT-07 auf Pole. Er hebt den Daumen, gleich sind wir dort. Holpern über einen Feldweg runter zur Fichtelnaab. Wie es sich gehört, steht die ehemalige Goetz Pappenfabrik direkt am Bach. Wasser war wichtig für die Bierdeckel-Produktion. Und Bierdeckelwaren wichtig für Bayern. 1897 pappte man hier unten die ersten zusammen, 2009 die letzten. In Jubeljahren verschickte Goetz 500 Millionen Filzl: Heineken, Coca-Cola, Guinness – sie standen auf Bierdeckeln aus Brand. Nur brauchte die Welt Mitte der 90er nicht mehr so viele davon. Auch Bayern nicht. Aus einer Unmenge heimischer Brauereien, es geht die Sage von 30 000, waren rund 700 geworden. Goetz hingauf halb acht. 52 Arbeitsplätze bedroht. 2004 grätschte ein Hamburger Investor ein. Goetz Pappe hieß nun Goetz International Papers & Printing. Geholfen hat’s wenig. Die Fabrik war verloren. Wieso viele Betriebe im ehemaligen Zonenrandgebiet: Papier, Textil, Glas, Porzellan – am Ende hat keiner vom Fall des Eisernen Vorhangs profitiert. Die kleinen Firmen verschwanden zügig, die größeren gingen in nächstgrößeren auf. Und von den ganz Großen haben es längst nicht alle gepackt. Winterling 1999 insolvent. Hutschenreuther 2000. Arzberg mit Schirnding, Kronesterund Seltmann Vohenstrauß 2013.

Biker fahren durch einen Wald in Richtung Lost Place

ACHTUNG!

GAS RAUS, KUPPE.

FLIEGENDE FICHTEN


WAS KOMMT NACH DEM ENDE?

„Die Stille. Die Ästhetik des Untergangs. Die Weite des unbelebten Raums. Und natürlich die Geschichte.“ Jörg liebt sie, diese verlorenen Orte. Nicht nur als Fotograf. Für ihn haben Lost Places etwas zutiefst Menschliches. Hier eine halb ausgetrunkene Flasche, dort eine kurze Notiz, ein Arbeitskittel ordentlich mit dem Bügel ans Regal gehängt, „das ist alles gelebtes Leben“. Die Flüchtigkeit des Augenblicks,das Vergängliche, Vergebliche – vielleicht wird es einem nirgendwo stärker bewusst. „Schaut euch diese Halle an! 110 Meter lang. Hier stand die Langsiebanlage. Riesig. Eine Monstermaschine. Stellt Euch diesen Lärm vor, das Gewummer und Gestampfe, diese ganze Hektik, die zittern den Fensterscheiben. Vorbei. Ende. Aus. Das ist doch Wahnsinn. Irgendwie. Oder?“ Ist es. D'accord, Jörg. Der Urban Explorer aus Hof kennt die alte Fabrikbis in den letzten Winkel. Hier fotografiert er Mode, hier stellt er demnächst seine Urbex-Bilder aus, hier arbeitet der Oberfranke aktiv am Strukturwandelin der nördlichen Oberpfalz mit. Lost Places zu Pflugscharen – oder so ähnlich. Denn das Goetz-Areal mit 9000 qm überbauter Fläche soll reanimiert werden. Als Event- und Coworking-Fabrik. Als Kunst-, Kultur- und Oldtimer-Insel. Als Thinktank an der Fichtelnaab. Warum nicht?

Alter Porzellan Laden von innen
Biker stehen vor dem alten Porzellan Laden

PORZELLAN
Im Fichtelgebirge fand man,
nachdem es kein
Erz mehr hergab, Kaolin.
Den Stoff, den man zur
Porzellanherstellung braucht.
Womit ein neuer Industriezweig geboren war.
Städte wie Hohenberg,
Selb, Tirschenreuth,
Arzberg standen bald als
Synonym für
weltbekannte Manufakturen.

DAS ALSO SIND UNSERE MOTORRÄDER.
WAREN DIE IMMER SO BUNT?

ZIEMLICH WEIT »OFF THE MAP« –
WIE DER PROFI SAGT

Grillengezirpe, Insektengeschwirre, das Rauschen ganzer Armeen mikroskopischer Lebewesen. Auf und abschwellend, auf und ab. Selten, vielleicht nie so deutlich wahrgenommen. Aus einem Lost Place aufzutauchen, ist die praktikabelste Form der Reinkarnation. Wir erleben sie jetzt zum dritten Mal, treten aus einer stillgelegten Porzellanfabrik. Die Erde da draußen kocht. Alles dreht sich und singt und tanzt, und gleich wird diese Galaxie vorlauter Energie bersten. Dabei sind wir nüchtern betrachtet am A. d. W. – oder ziemlich weit „off the map“, wie der Profi sagt.Das also sind unsere Motorräder. Waren die immer so bunt? Und haben die uns hierher gebracht? Nach dem Vakuum hinter dem alten Gemäuer wirken die beiden Yamahas wie gerade gelandet. Ufos aus einem Science-Fiction-Film. Es ist ein langes Ankommen aus dem Monochrom halbdunkler Hallen und Gänge. Es dauert, bis man wieder bei sich ist. Bis man das Kafkaeske der verwaisten Werkbänke und verlassenen Büros mit ihren eindringlichen Zeugnissen einer einst stolzen Manufaktur einsortiert hat. Für die Verarbeitung empfehlen wir, auf Durchzug zu stellen. Gas geben. Die Kurve kratzen. Oder drei, vier, fünfzehn am Stück. Den Horizont in alle Richtungen drehen, alle Schwere abschütteln. Nichts ist für immer.

Biker gucken aus einem Fenster von einem Lost Place

URBEX-KODEX
Hausfriedensbruch, auf militärischem Gelände sogar Landfriedensbruch: In Lost Places bewegt man sich oft am Rande der Legalität. Obendrein gilt unter Urban Explorern (Stadterkundern) der Kodex: nichts mitgehen lassen, nichts verändern. Staunen, Bilder machen. Basta!

Biker schauen in einem Lost Place durch ein Fenster nach draußen
Biker lehnen an einen Stein und haben ihr Motorrad im Lost Place abgestellt

AUFKLÄRUNG
Großer Kornberg – nordöstlicher Außenposten des Fichtelgebirges:827 m ü. NN, zehn Kilometer vor der tschechischen Grenze. Und dorthin zielten während des Kalten Krieges die Abhörmaßnahmen der Bundeswehr im gut 60 Meter hohen Aufklärungsturm.

Biker schauen durch einen Zaum auf Bohemian Rhapsody einen Lost Place

BOHEMIAN RHAPSODY
Die Sonne steht schon schräg, als wir über eine Hochfläche zum Grenzlandturm in Neualbenreuth rollen. Ein Werk der 1960er-Jahre, das dem Begriff Lost Places eine andere Dimension verleiht. Im Stil jener tschechischen Wachtürme, die während des Kalten Krieges zur Beobachtung des Grenzstreifens dienten, zogen vertriebene Sudetendeutsche auf bayerischer Seite einen Aussichtsturm hoch. Nicht wirklich aus Protest, sondern vor allem, um einen tiefen Blick in die verlorene Heimat hinter dem Eisernen Vorhang zu ergattern. Böhmen. Das Egerland. Voraus schimmert die aufgestaute Wondreb, schräg dahinter liegt Cheb, deutsch: Eger. Eine der Keimzellen der Sudetenkrise, die von Hitler – wem sonst? – angeheizt worden war und die tschechoslowakische Regierung 1938 zwang, das sogenannte Sudetenland ans Deutsche Reich abzutreten. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte noch um ein paar Monate hinausgezögert werden.

„Und jetzt“, Julian kramt sein Smartphone hervor, startet die Navi-App, „Münchsfeld, Frauenthal, Mühlhäusel?“ Nicht auf der Karte, off the map. Ihr Ziel liegt auf unerreichbarem Gebiet. „Das sind keine verlorenen, das sind verschwundene Orte.“ Tief im Wald, drüben im Bezirk Tachov. Es gib Hunderte, Tausende davon. Alle nach Kriegsende einplaniert oder geschleift oder verfallen. Das Deutsche musste raus aus Böhmen, Mähren, aus Tschechisch-Schlesien. Es ist viel zu spät, als wir Richtung Neuhäusl aufbrechen. Neuhäusl alias Nove Domky. Eins jener alten Dörfer, unten bei Rozvadov (Roßhaupt). Hatte mal 750 Einwohner, heute sind es noch 14. Oder zehn? Jedenfalls ist Neuhäusl nicht komplett verschwunden. Ein paar Häuserblieben erhalten. Und die alte Pfarrkirche? Vor Jahren bei der Durchreise eher zufällig entdeckt – vielleicht steht sie ja noch. Vielleicht schaffen wir es noch. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht. Schon geht es wieder los: Abenteuerlust, Pioniergefühle. Es gibt einen einfachen Weg, außen rum über Waidhaus. Aber Neuhäusl über Waidhaus, ist wie Tequila ohne Salz und Zitrone. Wir nehmen die Luftlinie, stauben über Schotter, zuckeln durch winzige Weiler, krachen in Schlaglöcher, verfahren uns im finsteren, böhmischen Wald. Letzte Sonnenstrahlenblitzen an dunklen Fichtenstämmen vorbei, als Neuhäusl in Sicht kommt. Die „Kirche der Heimsuchung unserer lieben Jungfrau Maria“ bietet dem Verfall tapfer die Stirn. Und dahinter, auf dem alten deutschen Friedhof, flackern rote Grablichtlein. Von wegen vergessen.

Alte Coca Cola Uhr in einem Lost Place

OFF THE MAP
Fünf Gründe für einen Lost-Places-Trip:
Erstens liegen vergessene Orte oft tief im Abseits.
Was zweitens die Entdeckung kleinster Sträßchen forciert.
Wo drittens keine Vierräder,
viertens keine Leitplanken und
fünftens keine Ampeln und so Zeug den Fahrspaß verderben.

Biker legen sich in eine kurve
Karte von verschiedenen Lost Places

DAS ZEUG DAZU

EIN PAAR DINGE FÜRS ABENTEUER, VON DENEN MAN EINES GARANTIERT BRAUCHT...

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